Glasmuseum
In über 40 Jahren engagierter Sammeltätigkeit von Lilly Ernsting entstand eine der bedeutendsten Glassammlungen Europas. Sie repräsentiert die zeitgenössische europäische Glaskunst seit den 70er Jahren in einzigartiger Weise vom angewandten bis zum autonomen Glas.
Um die anfangs noch private Sammlung der Öffentlichkeit zu zeigen und so ihre Freude am Glas zu teilen, gründete Lilly Ernsting (1930-2023) im Jahr 1996 gemeinsam mit ihrem Ehemann Kurt Ernsting (1929-2011) das Glasmuseum. Neue Tendenzen in der Glaskunst aufzuspüren und auszustellen, sind zentrale Anliegen des Museums. Mehrere Ausstellungen im Jahr erwarten den Besucher. Die Neuerwerbungen des Vorjahres bilden jeweils den Auftakt eines neuen Ausstellungsjahres. Es folgen Ausstellungen mit eingeladenen Künstlerinnen und Künstlern zu thematischen Projekten. Studenten von Kunstakademien und Hochschulen sowie Schüler von Glasfachschulen ergänzen mit ihren Studien- und Abschlussarbeiten das Ausstellungsprogramm. Die Sammlung wird durch Neuankäufe aktueller und qualitativ herausragender Werke kontinuierlich erweitert.
Der Alte Hof Herding, eine Stätte mit Geschichte und Zukunft
Seit 1995 ist der ehemalige Schulzenhof „Alter Hof Herding“ in Coesfeld-Lette[1] Sitz der gleichnamigen Kunst- und Kulturförderstiftung des Ehepaares Kurt (1929-2011) und Lilly Ernsting (1930-2023). Das gepflegte und architektonisch reizvoll angelegte Ensemble aus Glasmuseum und Alter Tenne ist zu einem wichtigen kulturellen Ort in der Region geworden. Zugleich ist es ein herausragendes Beispiel für das behutsame und durchdachte Vereinen von Geschichte und Zukunft.
Erste Begegnung
Freundlich empfangen fühlt sich der Besucher beim Betreten der Anlage. Neugierig wird er, wenn er sich der alten und modernen Architektur nähert. Damals und Heute treffen aufeinander und vermitteln Achtung und Pflege des Gewesenen und den gestalterischen Willen der Gegenwart. Der Besucher spürt den Diskurs der Zeiten und die Offenheit für die Zukunft.
Der moderne und sachlich konzipierte Museumsbau zieht sich am Weg zum Haupteingang des Ensembles entlang. Seine hohe Glasöffnung in der Giebelwand und die langgestreckte Bauform lassen erahnen, dass hier einst eine Scheune stand, die auf Grund ihrer Nutzung als Zehntscheune[2] im Bewusstsein bleiben sollte. Auf der Höhe des Museumseingangs schließt sich das einstige Hauptgebäude, die Tenne, an, dessen historische Architektur auf das ehemalige Aussehen des Hofes schließen lässt. Hier sind die ersten Jahrgänge der Glassammlung in der Alten Tenne beheimatet. Im Schlußstein des Tennentores sind das Jahr 1977 und die Namen K+E Ernsting zu lesen. Dieses Jahr war ein entscheidender Markstein in der Geschichte des Alten Hofes Herding, denn ohne das persönliche Engagement von Kurt und Lilly Ernsting für die Kultur und deren Erhalt, hätte die Geschichte des Hofes keine Zukunft gehabt.
Zurück in die Geschichte
Eingebettet in die ehemalige westfälische Markgenossenschaft[3] erlebten die früheren Bewohner des Alten Hofes Herding eine wechselhafte Geschichte infolge sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen bis ins 20. Jahrhundert. Die Gründung des Hofes ist archivalisch nicht exakt belegt. Erste urkundliche Erwähnungen finden sich im Jahr 1359, als Engelbert Schulte[4] Herdinck (Herding) als Zeuge beim Verkauf von 40 namentlich erwähnten ledigen und verwitweten Letteraner Hofleuten des Knappen Heinrich von Lette an das Kloster Varlar auftritt.
Drei wichtige Informationen enthält diese Mitteilung. Engelbert Herdinck verwaltete als Schulte einen Gutshof in Lette, Heinrich von Lette unterhielt einen Adelssitz und das Kloster Varlar hatte Rechte an Lette. Über diesen sogenannten Adelssitz in Lette wurde ab 1175 berichtet. Von der Verbindung Lettes zum Prämonstratenserkloster Varlar, 1022 bei Coesfeld gegründet, gab es seit 1142 Kenntnis. Papst Innozenz bestätigte dem Kloster dessen Besitz und einen Zehnten zu Lette.[5] Nach und nach erweiterte das Kloster seine Grundherrschaft und erwarb von 1260 bis 1376 eine Reihe von Besitzungen und Rechten in Lette. Der in diese Zeitspanne fallende Verkauf der Eigenbehörigen[6] an das Kloster im Jahre 1359 lässt vermuten, dass der Hof Herdinck (Herding) im Abhängigkeitsverhältnis zum Kloster stand und die Güter der abgabepflichtigen Höfe für das Kloster einsammelte. Wechsel- und Freibriefe bezeugen Abgaben des Hofes an das Kloster über viele Jahrhunderte.[7] Während der Säkularisation von 1803 gingen das Kloster Varlar und der Hof Herding an den Fürsten zu Salm-Horstmar in Coesfeld.
Über die Nachkommen des Engelbert Schulte Herdinck berichten die Quellen, dass sie sich politisch und kirchlich engagierten. Johann Herdinck war 1528 als Schöffe beim Merfeldschen Gericht tätig. Vincentus Herdinck war 1576 Provisor der Letter Kirche. Weitere Angehörige waren im Vorstand des Letter Armenhauses oder als Gemeindeverordnete Zeugen bei Ehe- und Testamentverträgen.[8] 1738 ließ Jodocus Henrichus Thier, genannt Schulte Herding, einen Bildstock aus Baumberger Sandstein zum Andenken an seine beiden verstorbenen Ehefrauen errichten. Dieses Denkmal ist 1979 mit Mitteln aus Privat- und Vereinsinitiative renoviert und in Straßennähe auf dem Hofgelände wieder aufgestellt worden. Dargestellt ist die Euchari-stie mit zwei dem Betrachter zugewandten Putten, einen Kelch mit Hostie im Strahlenkranz haltend. Unterhalb der Darstellung sind auf einer Schrifttafel Schulte Herding und seine beiden Ehefrauen Anna Gertrudt und Elisabeth genannt.[9]
Von der Architektur des Schulzenhofes ist erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts Erkennbares überliefert. 1743 kam es zum Bau der Tenne[10] mit integriertem Wohnhaus in der im Kernmünsterland typischen Bauweise des westfälischen Vierständerbaues[11]. Ein Auszug aus dem Urkataster von 1825 bestätigt die Hofanlage aus Tenne mit Wohnbereich und einer seitlich stehenden Scheune, der Zehntscheune.[12] Erst mit dem Neubau des Wohnhauses im Jahre 1853 zeichnet sich die Anlage deutlicher ab. Ursache für den Bau war ein Brand im Dezember 1851, der den Wohntrakt in Mitleidenschaft zog und seinen Abbruch erforderte. Entgegen der herkömmlichen Bauweise, die Tenne und Wohnbereich unter einem Dach zusammenfasste, ließ der Bauherr ein für die damaligen Verhältnisse imposantes, zweistöckiges, sattelgedecktes Wohnhaus an die zum Garten gelegene Giebelseite der Tenne errichten. Beide Gebäude sind reine Ziegelbauten mit Hausteinfassungen in Leibung und Gewände und heute die einzigen Geschichtszeugnisse des Alten Hofes Herding. Ihr schlichter, aber dennoch auf Symmetrie und Axialität ausgerichteter Stil steht stellvertretend für die vielen Höfe, welche die Letter Mark prägten.
Infolge der staatlich oktroyierten Markenteilung 1820/1821 unter König Friedrich Wilhelm III. wurde auch in Lette die Teilung in Angriff genommen und nach fast 29 Jahren im April 1849 beendet.[13] Es ist davon auszugehen, dass in diesem Zeitraum auch der Hof Herding in den privaten Besitz von Schulze Herding überging und fortan von ihm in Eigenregie bewirtschaftet wurde. In Familienbesitz blieb der Hof bis in die 1970er Jahre. Dem Wandel der Landwirtschaft konnte sich letztlich Schulze Herding nicht entziehen, und so plante er eine Hofvergrößerung an einem anderen Standort in Lette.
Neues Kapitel
Ein Zufall wollte es, dass der Geschichte des Hofes Herding 1976 ein neues Kapitel hinzugefügt wurde. Kurt und Lilly Ernsting erfuhren, dass der Hof Herding abgerissen werden sollte, was für sie unvorstellbar schien, war doch dieser Hof Teil der Geschichte bäuerlichen Lebens und Arbeitens in Lette. Ohne konkrete Vorstellung über die weitere Nutzung kauften sie Haus und Grundstück vom Eigentümer Schulze Herding. Es vergingen zwei Jahrzehnte, bis sie eine Lösung gefunden hatten, die auch in der Zukunft von Dauer sein sollte
Zur gleichen Zeit lernte Lilly Ernsting das Studioglas, das künstlerisch gestaltete Glas, kennen. Ihr Interesse am Werkstoff und die Freude an Glaskunstobjekten wuchsen stetig und mündeten in reges Sammeln. Mitte der 1990er Jahre fasste sie mit ihrem Mann den Entschluss, ihre inzwischen beachtliche Sammlung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ihr Wunsch war, die Freude, die sie am Glas erfahren durfte, auch anderen Menschen zuteil werden zu lassen. 1996 war es endlich soweit, die Glassammlung hatte eine neue Heimat und einen Ort der Präsentation gefunden. Die alte Scheune, deren Vorgängerbau unter anderem auch als Zehntscheune genutzt worden war, riss man ab und erbaute auf ihren Grundmauern eine geräumigere, sattelgedeckte, zweigeschossige Halle aus Ibbenbürener Sandstein in sachlichem Stil mit zwei großen Ausstellungssälen, Büroräumen, einer kleinen Küche und einer Sitzecke für Besucher zum Verweilen und Lesen von Fachliteratur über Glas. Im Innenraum klingt die historische Vierständerbauweise durch den Einzug des galerieartigen Obergeschosses an, welches die museale Funktion und Nutzung des Neubaues in hervorragender Weise unterstützt. Die Glasobjekte, die heute über 40 Jahre Sammlungstätigkeit widerspiegeln, zeigen die frühe Zeit des Studioglases bis heute mit den aktuellen Tendenzen der Glaskunst in ihrer Entwicklung zur autonomen Kunst..
Direkt vom Museum aus führt ein Gang, der zugleich auch Ort größerer Glasskulpturen ist, den Besucher in die Alte Tenne und damit in die alte historische Architektur. Der elegante und stilgerechte Übergang von neuer zu alter Bauweise setzt einen angenehmen Kontrast. Die Alte Tenne war einst Stall für Pferde, Schweine, Kühe und Hühner. Noch einmal lebt die westfälische Vierständerbauweise nach, welche in ihrer ursprünglichen Aufteilung erhalten ist und einen authentischen Eindruck vermittelt.
- [1] Lette bildet mit seinen ca. 5000 Einwohnern seit der kommunalen Neugliederung 1974/75 einen Ortsteil der Kreisstadt Coesfeld. Es liegt im westlichen Münsterland, etwa 35 km von Münster und 60 km nördlich des Ruhrgebietes. ↩
- [2] In der Zehntscheune wurde für den Gebietsherren der zehnte Teil vom Ertrag der abgabepflichtigen Höfe gesammelt. ↩
- [3] Der Historiker Gerhard Lachenicht beschäftigte sich 1983 in seiner Dissertation „Die Gemeine Mark und ihre Teilung in Lette bei Coesfeld“ über die Entstehung und Teilung der Mark unter Berücksichtigung der sozialen Problematik. Zur kurzen Einführung in das Wesen der Markgenossenschaft seien folgende Aussagen von Lachenicht übernommen: Die Markgenossenschaft ist eine bäuerliche Gemeinheitsfläche. Die Bauern nutzten gemeinsam das herrenlose Land in wirtschaftlicher Kooperation mit eigener Verfassung und Verwaltung. In Lette ist die Existenz einer Markgenossenschaft erstmals 1316 erwähnt. Generell setzte sich die Markgenossenschaft aus den Bewohnern des Dorfes und des Kirchspiels zusammen (= Markgenossen). Sie übte Selbstverwaltung aus, gab sich selbst Gesetze und verbindliche Richtlinien für ihren Bereich. Verstösse gegen ihre eigens verfassten Gesetze ahndeten sie mit Strafen. In ihrer Versammlung, der Hölting, besprachen die Markgenossen alles Wesentliche die Mark betreffend. Siehe Lachenicht, 1983, S. 24-45. ↩
- [4] Der Schulze oder Schulte fungierte als Verwalter von Höfen, die einem Grundherren unterstellt waren. Meist waren die Grundherren die Kirche resp. Klöster oder der Adel. Für seinen Grundherren zog der Schulte einen festgesetzten Anteil der Produkte aus Landwirtschaft und Gewerbe ein, welche der untergeordnete, abgabepflichtige Hof erzeugte. Die Bezeichnung Schulze wurde Teil des Namens und an die Nachkommen vererbt. ↩
- [5] Lachenicht, 1983, S. 34-35. ↩
- [6] Leibeigenschaft. Der Leibeigene war persönlich unfrei. Sein Herr konnte ihn veräußern. ↩
- [7] Weitere Angaben über den Hof Herding finden sich im Privatarchiv des Heimatforschers Heinz Lammers. Einzelne Aufzeichnungen über die Abgabe von Getreide und Vieh und über die Größe des Gutes konnte Heinz Lammers zusammentragen und sichern. Seine Kenntnisse über den Alten Hof Herding veröffentlichte er im Zusammenhang mit dem am Hof stehenden Bildstock und seiner Restaurierung im Jahre 1977. Siehe Bildstock Eucharistie in Coesfeld-Lette, Herausgeber Heimat- und Verkehrsverein, Coesfeld 1979, S. 21-23.↩
- [8] Lammers, 1979, S. 22 ↩
- [9] Lammers, 1979. ↩
- [10] Im Zuge der Umnutzung der Tenne als Konzertsaal ließ Kurt Ernsting eine dendrochronologische Untersuchung der Balken anstellen. Diese datierte das Holz in das Jahr 1743. ↩
- [1] Josef Schepers, Haus und Hof westfälischer Bauern, 4. Auflage, Münster 1977, S.209-232. ↩
- [12] Privatarchiv Heinz Lammers. Die seitliche Scheune, heute Standort Glasmuseum, war aller Wahrscheinlichkeit aus Holz gebaut und diente auch als Zehntscheune. Über ihr Aussehen in dieser Zeit ist nichts bekannt. ↩
- [13] Lachenicht, 1983, S. 97-129. ↩